Shoot the messenger
Es ist schwer geworden mit den Nachrichten dieser Tage. Nicht nur, wegen der Inhalte, sondern auch, weil es immer schwerer wird Fake News von der Wahrheit zu unterscheiden.
Die gestrige (17.10.23) Explosion nahe einem Krankenhaus in Gaza hat das Problem verdeutlicht, wie schwierig es ist, Nachrichten nach ihrem Wahrheitsgehalt zu bewerten. Als die ersten Berichte auftauchten, sprach alle Welt davon, dass es ein Luftschlag der israelischen Armee war. Was auf den ersten Blick auf Sinn ergab. Die israelische Luftwaffe bombardiert Stellungen der Terrororganisation Hamas ohne Unterbrechung. Ein Fehler, ein Irrtum oder gar ein geplanter Luftschlag auf das Krankenhaus schien im ersten Moment die logische Alternative zu sein. Und das berichteten auch die meisten Medien. Mittlerweile sieht die Sache aber anders aus.
Dass der arabische Sender Al Jazeera erst rund 12 Stunden nach der Katastrophe auf der Homepage seine Headline von "Israel bombed a Hospital" zu "What we know so far about the deadly strike" änderte, mag noch nachvollziehbar sein. Obwohl Al Jazeera ansonsten für sich höhere Standards anlegt. Aber auch die BBC wartete gar nicht erst auf eine Untersuchung. Und der originale Tweet ist auch noch online.
Das zeigt gleich mehrere Dinge. Zum einen: Auch Journalisten machen Fehler. Zum anderen: Es wird immer schwieriger, die Übersicht zu behalten. Aber wenn Profis schon solche Schwierigkeiten haben, wie sollen Menschen Nachrichten wahrnehmen, die weniger Erfahrung haben?
Dass es früher einfacher war, weil es weniger Quellen gab, mag richtig sein. Aber schon ein Blick in die jüngste deutsche Geschichte zeigt, wie unterschiedlich dieselben Nachrichten weitergegeben wurden. West-Deutschland hatte seine Sicht, Ost-Deutschland eine andere. Man muss sich nur die "Tagesschau" und die "Aktuelle Kamera" vom gleichen Tag anschauen, um zu verstehen, dass Nachrichten zwar den gleichen Inhalt haben können, aber völlig anderes bewertet und berichtet werden.
Mit den sozialen Medien ist das noch komplizierter geworden. Twitter funktionierte, zumindest teilweise, lange als verlässliche Quelle. Aber auch nur, wenn man wusste, wen man folgen konnte und welcher verifizierte Account vertrauenswürdig war. Das war schon schwierig genug, aber machbar, da die Menge an ordentlich verifizierten und berichtenden Journalisten groß genug war, um Fehlinformationen aus der Welt zu räumen. Was im Übrigen einer der Gründe ist, warum bestimmte Bereiche des extremen politischen Spektrums angefangen haben "Mainstream Media" als Schimpfwort zu nutzen und ihre Anhänger in Echokammern halten.
Die Demontage von Twitter durch Elon Musk hat das einzige "Minute by Minute" Nachrichtensystem der Welt, das halbwegs funktionierte, allerdings zerstört. Das prognostizierte Chaos durch die Abschaffung der Verifikation von wichtigen Medien und Journalisten ist eingetreten, wie man gestern Abend gut sehen konnte. Aber Twitter ist nicht mal das Hauptproblem, denn Twitter saß schon immer in einer Nische und hatte mit dem Nachrichtenkonsum der meisten Menschen nichts zu tun, beziehungsweise kaum einen Einfluss darauf.
Schlimmer ist, was auf anderen Plattformen abgeht. Facebook und Instagram sind eine Sache, eine ganz andere ist TikTok. Das immer noch am stärksten wachsende, höchst umstrittene Netzwerk, ist überflutet mit Bots und Botfarmen. Ich nutze TikTok fast ausschließlich für leichten Content. Tech-News, Kochrezepte, Motorsport. Und dennoch spülte mir der Algorithmus gestern innerhalb von Minuten Content zur Explosion am Krankenhaus in Gaza rein. Teilweise mit gefakten Bildern oder mit Bildern, die klar aus anderen Krisengebieten stammten.
Wie soll jemand das wissen, der sich nicht täglich mit dem Konflikt beschäftigt? Wie soll man erkennen, was richtig oder falsch ist, wenn man schlichtweg keine Zeit dafür hat? Und was ist in Zeiten von Deep Fakes eigentlich noch wahr und was nicht? Wie kann man entscheiden, was ein Bot ist und was nicht? Woher soll man wissen, dass ein Account, der Zehntausende Likes pro Posting kassiert, am Ende doch nur Lügen verbreitet?
Es ist schwer geworden, es ist unübersichtlich geworden. Auch, weil die Plattformen keine Lösung für das Problem haben. Das neue Netzwerk "Threads" sperrt gewisse Themen wie Covid. Was aber nicht die Lösung für alle sein kann, weil man sonst eine Zensur hat. Und auch wenn Plattformen Fehlinformationen sehr ernst nehmen würden, sie können gar nicht so schnell reagieren. Bot-Netzwerke verstärken durch Re-Sharing ihre eigenen Lügen in Sekunden. So schnell kann keine Plattform reagieren. Der Schaden ist aber schon angerichtet.
Was bleibt? Die klassische Vorsicht und die klassische Überprüfung jeder Nachricht:
1. Gibt es eine zweite und dritte Quelle?
2. Kenne ich diese Quellen?
3. Haben diese Quellen in der Vergangenheit zuverlässig berichtet?
4. Woher haben diese Quellen ihre Informationen? Haben sie eigene Reporter vor Ort oder beziehen sie sich auf andere Quellen?
5. Wie sind die Informationen entstanden? Gibt es Videos oder Fotos?
6. Wenn es Bildmaterial gibt, wie viel gibt es? Gibt es nur eine Aufnahme aus einem Winkel? Könnte es dann ein Deep Fake sein?
7. Ist das Bildmaterial verifiziert? Wurde es geolocated, wurde also festgestellt, wo die Aufnahme entstanden ist?
8. Haben offizielle (meist staatliche) Stellen etwas dazu gesagt? Wie vertrauenswürdig sind die Stellen?
9. Qui bono? Also, wer könnte von einer Fehlinformation profitieren?
10. Welche anderen Plattformen haben ähnliche Informationen, darunter auch solche, die ich normalerweise nicht lese, aber als vertrauenswürdig gelten.
Diese Fragen können zumindest ein wenig helfen und dass ausgerechnet die BBC bei ihrem Tweet darauf verzichtet hat, ist schon bezeichnend. Gegen solche Entgleisungen können auch die Plattformen nichts unternehmen. Die müssten allerdings mehr machen, aber auch die Forderungen der EU und die seit dem Sommer neuerlich verschärften Regeln helfen nicht. Selbst wenn eine Plattform innerhalb von sechs Stunden auf Desinformationen reagieren könnte - allein die schiere Menge an Bots macht es fast unmöglich. Per AI automatisierte Systeme sind dazu auch nicht in der Lage. Es bleibt einem selbst nur vorsichtig zu sein. Und vor allem nicht jede Nachricht sofort weiterzuleiten und per eigenem Posting zu kommentieren.